Selbstmitgefühl - was ist das eigentlich?

Katty Kay und Claire Shipman schreiben in ihrem Buch, „wenn Selbstmitgefühl der freundliche, sanfte Cousin [von Selbstbewusstsein] ist, ist Selbstwirksamkeit das taffe, just-get-it-done Mitglied der Familie.

Selbstmitgefühl ist noch gar nicht so lange auf der Agenda der Psychologen. Auf den ersten Blick kann es an die blumigen 60er Jahre der Hippies erinnern, laut neuesten Kenntnissen ist es jedoch weitaus tiefer zu betrachten.

Der Ursprung ist auf Sharon Salzberg zurückzuführen, die ihren Fokus auf die buddhistische Theorie gelegt hat, insbesondere auf fernöstliche Methoden wie vipassanā, Einsicht, und mettā, liebende Güte.

Wenn Selbstmitgefühl der freundliche, sanfte Cousin [von Selbstbewusstsein] ist, ist Selbstwirksamkeit das taffe, just-get-it-done Mitglied der Familie.
— Katty Kay & Claire Shipman

Oft wird eine Abneigung in den betroffenen Frauen hervorgerufen, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden. Dies können Erwartungen an sich selbst, an eine Situation oder an eine andere Person sein. Diese Abneigung, der Frust oder die Wut steckt nicht im schmerzhaften oder enttäuschenden Objekt, sondern entsteht vielmehr in unserer Beziehung zu ihm. In jeder Situation gibt es viele mögliche Reaktionen, die von Wut bis hin zu Mitgefühl und allem, was dazwischen liegt, reichen können. Kristin Neff, Professorin der Abteilung für pädagogische Psychologie an der Universität von Texas, hat dieses Konzept aufgegriffen und zu einer akademischen Methode weiterentwickelt. Sie unterteilt den Begriff des Selbstmitgefühls in drei Komponenten: Selbstgüte statt Selbstverurteilung, Mitmenschlichkeit statt Isolation und Achtsamkeit statt Überidentifikation.

Wenn ein Freund oder Familienmitglied einen Fehler macht oder ihn ein Unglück ereilt, versuchen die meisten Menschen, für ihn mitfühlend und rücksichtsvoll da zu sein. Wenn der Person selbst etwas ähnliches passiert, dann nimmt diese ihre eigenen Misserfolge als widernatürlich wahr. Wenn Menschen eine schlechte Note bekommen, für eine Beförderung abgelehnt werden oder ihre Präsentation auf Arbeit nicht die gewünschte Wirkung erzielt, sagen wir instinktiv: „Das sollte nicht passieren“. Solche Rückschläge gehören jedoch zum Leben dazu. Menschen sind keine Roboter. Die Freundlichkeit sich selbst gegenüber, die dem Selbstmitgefühl innewohnt, hört mit dieser Selbstverurteilung und den selbstabwertenden Kommentaren auf und verwandelt diese in ermutigende und freundlichere Selbstgespräche. Selbstmitgefühl verschmilzt mit dem Gefühl der Verbundenheit.

Wenn sich ein Mensch unzulänglich fühlt oder einen Fehler macht, hat sie das abwegige Gefühl, dass es allen anderen besser geht und nur sie selbst ein hoffnungsloser Fall ist. Die Personen leiden noch mehr, weil dies in jedem Betroffenen die Angst vor Einsamkeit und Isolation hervorruft. Mit Selbstmitgefühl stellen die Personen jedoch fest, dass Herausforderungen im Leben und persönliche Niederlagen Teil der Menschlichkeit sind; eine Erfahrung, die der Großteil der Menschheit kennt. Wenn ein Mensch seinen Idealen nicht gerecht wird, spürt er den Schmerz. Der Verstand konzentriert sich eher auf das Versagen selbst als auf das schmerzhafte Gefühl, das durch das Versagen verursacht wird. Wenn die Person bereit ist, sich ihrem eigenen Schmerz zuzuwenden und ihn mit Achtsamkeit anzuerkennen, dann entwickelt sie eine Form von ausgeglichenem Gewahrsein, das sich weder wehrt, noch vermeidet, noch unsere Erfahrung von Augenblick zu Augenblick übertreibt und sich so in Selbstmitgefühl ausdrückt.

Der zentrale Gedanke ist, dass die Menschen freundlicher zueinander und sich selbst im Sinne des Mitgefühls sind, weil sich dadurch ein gesünderes, erfüllteres und erfolgreicheres Leben führen lässt und unsere Resilienz gestärkt wird.

Jetzt kann vermutet werden, dass Selbstmitgefühl zu faulem Verhalten ermutigt oder im Widerspruch zum Selbstvertrauen steht. Dem ist nicht so. Im Gegenteil – es erlaubt der einzelnen Person, öfter herausfordernde Dinge zu versuchen. Es federt Misserfolge ab, steigert die eigene Motivation und in diesem Raum des Nicht-Verurteilt-Werdens und des Sich-Sicher-Fühlens können Menschen ehrlicher und offener ihr Verhalten reflektieren und Änderungen vornehmen.

„Die meisten Menschen glauben, dass sie sich selbst kritisieren müssen, um die Motivation zu finden, ihre Ziele zu erreichen. Wenn sie sich jedoch ständig selbst kritisieren, werden sie depressiv und Depressionen sind keine motivierende Einstellung“, so Neff.

Selbstmitgefühl bietet eine Form, mit sich selbst verständnisvoll und akzeptierend umzugehen, wenn persönliche Unzulänglichkeiten oder schwierige Lebensumstände betrachtet werden. Es gibt dem/der Einzelnen zu verstehen, dass Leiden, Versagen und Enttäuschung zum Leben gehören und dass es etwas ist, was wir alle durchmachen. Gerade Heranwachsende haben durch ihre fehlende Lebenserfahrung möglicherweise noch nicht gelernt, dass Leid und Schmerz normal und natürlich sind und jede Person früher oder später damit Erfahrungen sammeln wird.

Das merkwürdige Paradoxon ist, dass ich mich erst verändern kann, wenn ich mich genauso akzeptiere, wie ich bin
— Carl Rogers

Selbstmitgefühl erlaubt dem Menschen, durchschnittlich und normal zu sein und zeigt, dass dies vollkommen in Ordnung ist. Ein nicht geringer Anteil der Menschen verbringt reichlich Zeit damit, in allem die oder der Beste sein zu wollen. In unserer Gesellschaft werden Gewinner/innen besonders gefeiert und der Durchschnitt ist verpönt. Es gilt als Beleidigung, gesagt zu bekommen, dass die eigene Arbeit durchschnittlich ist. Sich mit anderen zu vergleichen ist normal, kann aber eine Quelle von Unzufriedenheit sein. Es ist nicht möglich, dass alle Menschen überdurchschnittlich gut sind. Manchmal schneidet eine Person im Vergleich besser ab, manchmal nicht. Selbstmitgefühl erkennt, dass nicht jeder immer gewinnen kann. Gleichzeitig ist Selbstmitgefühl keine Entschuldigung für Untätigkeit - es fördert Handeln und verbindet Menschen miteinander, mit sich selbst, mit ihren eigenen Stärken und Schwächen.





Dies ist ein modifizierter Auszug aus meiner Bachelorarbeit “Sich seiner Selbst bewusst sein”.

Die Quellen sind in der Reihenfolge der Nutzung aufgeführt.


Kay, K. & Shipman, C. (2014). The Confidence Code: The Science and Art of Self-Assurance. What Women Should Know. New York: Harper Business.

Salzberg, S. (2021). Sharon Salzberg. Zugriff am 18.02.2022 unter https://www.arbor-verlag.de/sharon-salzberg

Salzberg, S. (2011). Mindfulness and loving-kindness. Contemporary Buddhism, 12(1), 177-182.

Neff, K. D., Kirkpatrick, K. L. & Rude, S. S. (2007). Self-compassion and adaptive psychological functioning. Journal of research in personality, 41(1), 139-154.

Braehler, C. & Neff, K. (2020). Self-compassion in PTSD. In Emotion in posttraumatic stress disorder. Academic Press, 567-596.

Zessin, U., Dickhäuser, O. & Garbade, S. (2015). The relationship between self‐compassion and well‐being: A meta‐analysis. Applied Psychology: Health and Well‐Being, 7(3), 340-364.

Lefebvre, J. I., Montani, F. & Courcy, F. (2020). Self-compassion and resilience at work: A practice-oriented review. Advances in Developing Human Resources, 22(4), 437-452.

Neff, K. D. & McGehee, P. (2010). Self-compassion and psychological resilience among adolescents and young adults. Self and identity, 9(3), 225-240.

Breines, J. G. & Chen, S. (2012). Self-compassion increases self-improvement motivation.  Personality and Social Psychology Bulletin, 38(9), 1133-1143.

Neff, K. (2013). Selbstmitgefühl: Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. München: Kailash Verlag.

Spangenberg, B. & Spangenberg, E. (2008). Vergleichen in Zeiten der Mediation. Zeitschrift für Konfliktmanagement, 11(1), 26-27.

Rogers, C. R. (2002). Entwicklung der Persönlichkeit: Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. Stuttgart: Klett-Cotta.